Indien für Anfänger

Als 16-jähriger Zehntklässler verwendet man noch kaum einen Gedanken darauf, in frühestens zwei Jahren sein geliebtes Cloppenburg für ein ganzes Jahr zu verlassen. Erstmal Abi schaffen!

Gut, dass man Lehrer hat, die für einen mitdenken. Um uns eine weniger heimatverbundene Alternative aufzuzeigen, rekrutierte Frau Niehaus Benjamin Scholz kurzerhand aus seinen verdienten Abiturferien zurück in die Schule, wo er sich mit einer standesgemäßen Präsentation zum Dienst meldete.

Zwei Jahre hatte Benjamin Frau Niehaus´ Erdkunde Unterricht im Prüfungskurs genossen und hat sich dabei nicht nur den Ruf als fröstelnder Toilettengänger gesichert, sondern auch so einiges über Entwicklungshilfe und Indien gelernt. Da zur Theorie aber auch immer die Praxis gehören sollte, fasste Benjamin den Entschluss: Ich möchte nach Indien! Für ein ganzes Jahr! Und wir waren alle baff. Schon bei dem Gedanken an Indien fühlten wir den aufkommenden Kulturschock. So weit weg? Ein ganzes Jahr nicht in Cloppenburg? Damit nicht genug: Benjamin wollte in einem Slum arbeiten! Ist das nicht viel zu gefährlich?

Um aufkommende Ohnmachtsanfälle zu vermeiden, stellte uns Benjamin in der 10. Klasse sein Projekt in einer abiturreifen Präsentation vor: Er plante für ein Jahr in einem indischen Slum Kindern in einer freiwilligen Schule Englisch beizubringen. In unserem frisch renovierten Klassenzimmer im Finanzamt konnten wir uns das in dem Moment eher schwer vorstellen. Englischunterricht ohne Smartboard? Allerdings waren wir alle ziemlich verblüfft, als wir von Benjamins enormen Engagement erfuhren: Er hatte neben dem Abitur noch Zeit gefunden, einen Spenderkreis aufzubauen, um 6000 € zu sammeln und damit selbst etwas zu seinem Auslandsaufenthalt beizutragen. Spontan entschlossen traten wir dem Spenderkreis bei.

Erst ein Jahr später, gegen Ende unseres elften Schuljahres, bekamen wir eine greifbarere Vorstellung von dem, was Benjamin schon während der ersten Präsentation zu vermitteln versucht hatte. Unbeeindruckt von allen Schülern der damals 10. Klassen, die Indien gerade im Unterricht durchdekliniert hatten, und den zwei berüchtigten Erdkunde-„Hochleistungskursen“ des damaligen elften Jahrgangs teilte Benjamin den etwa 100 Schülern in der Aula seine Erfahrungen und Erlebnisse mit, die er während seines Indien-Aufenthaltes sammeln konnte. Mit hunderten eigener Fotos konnte unsere Vorstellungskraft angespornt werden und durch unendlich viele Anekdoten über indische Eigenarten und persönliche Erfahrungen überzeugte er uns, dass ein Auslandsjahr gar nicht mal so abwegig ist.

In seinem Jahr in Indien hatte Benjamin in einer Gastfamilie gelebt und in dem Slum gearbeitet. Obwohl er die Sprache der Kinder nicht verstand, hat er es nach anfänglichen Kommunikationsproblemen doch geschafft, vor allem spielerisch Englisch zu vermitteln. Untermalt wurden seine Geschichten von seinen Bildern und Videos, die von einer deutlich größeren Vielfalt und spannenderen Kultur erzählten, als wir es zunächst erwartet hatten. So erlangten wir während dieses zweiten Vortrags einen immer positiveren Eindruck und bemerkten, wie sehr sich Benjamins Engagement ausgezahlt hatte, auch wenn Indien wohl für viele trotzdem noch kein Traumziel darstellt.
Insgesamt ist es außerdem eine sehr willkommene Abwechslung für alle, die sich nicht direkt nach dem Abitur festlegen wollen und genug von langen Ausbildungs- und Studiumsvorträgen haben. Solche alternativen Perspektiven sollten deutlich mehr gefördert werden, vor allem, weil es gerade aus dem elften Jahrgang viele Schüler motivierte, sich doch um ein Aupair-Jahr zu kümmern oder selbst über Entwicklungshilfe im Rahmen der EU zu informieren und den Mut zu haben, sich zu bewerben. Wird einem erst einmal vorgeführt, wie bereichernd ein Übergangsjahr im Ausland ist, ist man deutlich zuversichtlicher, dass man das selbst auch schaffen kann.
Dabei gilt unser besonderer Dank unserer engagierten Frau Niehaus und natürlich Benjamin Scholz, die uns beide dies erst ermöglicht haben.

Josephine Südbeck, Jahrgang 12